Alle Vögel sind schon (wieder) da auf Hallig Norderoog

„Rottrottrott“ rufen die Ringelgänse kilometerweit aus dem Watt, Strandpieper suchen auf der Hallig nach Sämereien und die Salzwiese strahlt in ihren schönsten Farben. Eindeutig: Es ist Herbst.

Auch wenn der meteorologische bzw. kalendarische Herbstbeginn erst auf Anfang bzw. Ende September datiert ist, geht es hier auf Norderoog schon seit einigen Wochen herbstlich zu. Die Natur hält bekanntlich nichts von menschengemachten, starren Einteilungen und so ist die phänologische Einteilung der Jahreszeiten wesentlich dynamischer und aussagekräftiger als ein jährlich zur selben Zeit festgelegter Jahreszeitenbeginn. Auch wenn diese phänologische Einteilung eigentlich auf den Vorgängen in der Pflanzenwelt basiert (also z.B. Beginn der Blattentfaltung und Blüte bestimmter Pflanzenarten) kann Mensch gerade hier im Wattenmeer auch am Zuggeschehen der Watvögel eine jahreszeitliche Einteilung erkennen. Nun ist das Eintreffen der arktischen Brutvögel (Knutts, Alpenstrandläufer, Kiebitzregenpfeifer u.v.m.) hier im Wattenmeer auch davon abhängig, wie gut deren Bruterfolg im hohen Norden war, aber grundsätzlich treffen sie als „Vorboten des Herbstes“ früher ein, als wir vielleicht bereit sind, dem Ende des Sommers entgegenzublicken. Genau genommen kam mir hier auf Norderoog schon Ende Juli dieses Gefühl auf – also dann, als die Brutzeit auf der Hallig gerade erst richtig abgeschlossen war.

 

Bereits dann trafen die ersten Limikolen (Watvögel) aus ihren arktischen Brutgebieten im Wattenmeer ein – allen voran Knutts in fünfstelligen Zahlen, die seitdem täglich spektakuläre Schwarmflüge um Norderoog herum vollziehen. Zu diesen mitunter 30 000 Individuen umfassenden Knutt-Schwärmen gesellen sich noch mehrere tausend Alpenstrandläufer, mehrere hundert Pfuhlschnepfen, Brachvögel, Kiebitzregenpfeifer undsoweiterunsofort. Kurz gesagt: Die Hallig ist leer, das Watt ist voll.

War ich doch etwas wehmütig, als gegen Ende der Brutzeit die Hallig von Tag zu Tag, ja manchmal sogar spürbar von Stunde von Stunde leerer wurde und im Kontrast zum regen Brutgeschehen wie „ausgestorben“ wirkte, ist das ornithologische Geschehen auf den Wattflächen dafür nun ein sehr guter Ersatz. Aber auch auf der Hallig selber ist der Herbstzug nun zu spüren, denn immerhin ein paar Singvögel (u.a. Schnäpper, Rotschwänze, Fitisse und Zilpzalps) nutzen Norderoog als kurze Rastmöglichkeit und gehen intensiv auf Insekten- oder Sämereienjagd.

links: Trauerschnäpper (Weibchen), rechts: Gartenrotschwanz (Weibchen)

War mein Alltag hier auf Norderoog schon vorher v.a. durch die Gezeiten geprägt, ist er das jetzt noch mehr. Denn wenn bei Flut die Wattflächen immer kleiner werden, kommen die Watvögel immer enger zusammen und verharren bis zur letzten Möglichkeit auf den noch übrig gebliebenen Flächen. Dabei kommen sie sehr nah an Norderoog heran und lassen sich so dicht beieinander auch sehr gut zählen. Bis zum Hochwasserzeitpunkt werden sie immer weiter westwärts Richtung Norderoogsand „gedrückt“ und verharren dann dort an der Ostseite des Sandes ein bis zwei Stunden bei Hochwasser. Da wird dann alles erledigt, wofür sonst keine Zeit ist: Gefiederpflege, Ausruhen und ein paar Minütchen Schlaf. Denn unabhängig von Tag und Nacht geht bei Ebbe das „große Fressen“ weiter. Kaum sind die ersten Wattflächen wieder freigefallen, kommt wieder Leben in die Schwärme und die ersten Tiere wagen sich ein paar Schritte vor – oder strecken ihre Flügel, um ein Aufbruchssignal an die anderen Vögel zu senden und kurz darauf abzuheben und eine frei gewordenen Fläche ausfindig zu machen. So geht das dann für jeden Watvogel mehrere Wochen lang. Und das muss es auch, denn in der Zeit, in der sich diese „Rastvögel“ hier im Wattenmeer aufhalten, müssen sie sich mitunter das Doppelte ihres eigenes Körpergewichts anfressen, um danach ihren Weiterflug Richtung Afrika mit genügend Energiereserven meistern zu können.

 

Der Begriff „Rastvögel“ erscheint hier geradezu zynisch, denn wirklich rasten im Sinne von verschnaufen tun diese Vögel natürlich nicht, wenn sie den ganzen Tag auf den Wattflächen herumlaufen, um nach Muscheln und Würmern zu suchen. Und trotzdem: Der Frühjahrs- und Herbstzug der Limikolen und aller anderen Wasservögel (z.B. Enten & Gänse) verdeutlicht jedes Jahr aufs Neue die ökologische Unersetzbarkeit und Wichtigkeit des Wattenmeers entlang der niederländisch-deutsch-dänischen Nordseeküste. Ohne die „Tankstelle Wattenmeer“, die jedes Jahr ca. 10 – 12 Millionen durchziehender Wat- und Wasservögel ausreichend Nahrung liefert, würde der Vogelzug auf dem sog. Ostatlantischen Zugweg (entlang der Westküste Afrikas und Westeuropas) wahrscheinlich zusammenbrechen. Auch das war für die Ernennung des Wattenmeeres zum UNESCO Weltnaturerbe im Jahre 2009 ein ausschlaggebender Punkt.

 

Und woher weiß man, dass es so viele sind? Richtig, indem man sie zählt. Seit vielen Jahrzehnten werden alle zwei Wochen bei der sogenannten Springtidenzählung (STZ) alle Gebiete entlang des Wattenmeers möglichst zeitgleich um den Hochwasserzeitpunkt herum erfasst. Dadurch lassen sich Bestandsschwankungen der einzelnen Vogelarten sehr gut erkennen. Da Vögel nun mal sehr mobil sind, lässt sich natürlich nie eine exakte Zahl aller zurzeit rastenden Vögel ermitteln, aber die Methodik der Springtidenzählung ist ausreichend genau, um Trends und langjährige Mittel zu erkennen.

 

Besonders beeindruckend sind diese Zählungen natürlich dann, wenn es an die großen Schwärme geht. Einen Teil dieser Schwärme kann ich zwar von meinen beiden Hütten auf Norderoog aus erfassen, längst jedoch nicht alle und auch auf den anderen Außensänden (Süderoogsand und Japsand) halten sich mindestens ebenso große Schwärme auf. Daher wird auch hier systematisch vorgegangen und die drei Außensände zwei Tage vor dem eigentlichen Termin der Springtidenzählung gezählt. Süderoogsand und Japsand werden dabei von den Freiwilligen der Schutzstation Wattenmeer gezählt und auch ich bekomme zum Glück immer Unterstützung von einer Person von der Schutzstation Wattenmeer auf Hooge, denn den Norderoogsand innerhalb einer Tide alleine zu zählen ist fast nicht möglich.

Vormittags geht’s dann also nach Niedrigwasser hinaus auf die unendlichen Weiten des Norderoogsands. An der Westseite des Sandes angekommen teilen wir uns auf – eine:r zählt die Nordseite, eine:r die Südseite. Ausgerüstet mit Spektiv, Fernglas und Zähluhr wird alles erfasst, was sich an Geflügel entlang der Wasserkante aufhält. An den wattfreien Seiten des Sandes (also im Westen, Norden und Süden) sind die Zahlen meist überschaubar, aber sobald die Ostseite des Norderoogsands erreicht ist (also dort, wo sich die Wattflächen anschließen und die Watvögel bei Flut „hingedrückt“ werden) laufen die Zähluhren auf Hochtouren. Fast entlang der gesamten Ostseite stehen sie dann dicht gedrängt zusammen: Knutts, Alpenstrandläufer, Kiebitzregenpfeifer, Brachvögel, Pfuhlschnepfen – und nun auch Pfeifenten und Ringelgänse in rauen Mengen.

An der Nordostspitze des Norderoogsands versammeln sich zu Hochwasser besonders viele Pfeifenten, Ringelgänse und Limikolen (z.B. Knutts und Alpenstrandläufer), im Hintergrund ist Amrum zu sehen.

Glücklich ist, wer einen relativ ruhigen Schwarm vor sich und keinen Seeadler in der Nähe hat. Dann werden aus gebührendem Abstand die verschiedenen Arten in einem solchen Schwarm zumeist in Zehnerschritten gezählt und das Ergebnis mit zehn multipliziert. Und schon kann man zufrieden eine vier- oder fünfstellige Zahl ins Zählbuch notieren und zum nächsten Schwarm aufbrechen. Falls es anders gelaufen ist und der Schwarm mitten beim Zählen meinte, sich neu sortieren zu müssen und man somit mit dem Zählen nochmal von vorne anfangen muss, helfen Dinkel-Doppelkekse gegen Frustration. Oder einfach die schier unfassbar beeindruckenden Flugmanöver, die einem dann direkt vor der Nase vorgeführt werden. Die gab es dann letzten Dienstag bei der vergangenen Springtidenzählung auch wieder – als sich bei ablaufendem Wasser 9.820 Pfeifenten, 12.290 Ringelgänse, u.v.m. zum Dinieren wieder auf die Wattflächen verteilten. Na dann – guten Hunger!

Herbstliche Grüße, Euer Sebastian

Kontakt

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